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Indien im Theater am Faden

Für Indien-Freunde ist das Theater am Faden ein absolutes Muss: In dem kleinen Puppentheater sind regelmäßig Tänzer, Sänger und Musiker aus Indien zu Gast, die mit klassischer indischer Musik und klassischem indischen Tanz das Flair von Mumbai und Kalkutta nach Heslach bringen. Die Veranstaltungen finden jedes Frühjahr/Sommer von April bis Juli und im Herbst im Oktober/November statt.
Das Theater am Faden pflegt einen intensiven Kulturaustausch mit Indien. Bereits seit 1981 gastieren hier indische Musiker und Tänzer und seit 1994 war das Theater 15mal auf Gastspielreise in Indien, zuletzt im September 2019.

Das Theater am Faden in Stuttgart-Heslach bietet seinen Besuchern von April bis Juli und im Oktober und November Gelegenheit, hervorragende Konzerte der klassischen indischen Musik und klassischem indischem Tanz zu erleben.
Es treten professionelle, hochrangige Künstler aus Indien auf. Dieses Konzertangebot in Stuttgart ist in Deutschland nahezu einmalig: lediglich in der indischen Botschaft in Berlin finden Konzerte klassischer indischer Musik in ähnlichem Umfang statt.

Die klassische indische Musik
Die klassische indische Musik ist modal und duldet im Grundsatz nur ein Melodieinstrument. Innerhalb eines von strengen überlieferten Regeln gesetzten Rahmens bietet sich ein breiter Raum für Interpretation. Im Solospiel arbeitet der Musiker einen musikalischen Gedanken auf dieser Grundlage aus und entwickelt diesen im zeitlichen Verlauf des Stückes aus dem Wechselverhältnis von Freiheit und Disziplin. Einen Dialog gibt es nur zwischen dem Melodie- und dem Rhythmusinstrument. Die Struktur der Melodie ist der Raga, dessen Skala jeweils aufsteigend und absteigend festgelegt ist. Er drückt eine bestimmte musikalische Stimmung aus und wird in der Regel einer Tageszeit, Jahreszeit oder sonstigen gefühlsstarken Ereignissen meist in der Natur zugeordnet.
Der Raga ist eine Herausforderung an die schöpferische Kraft des Musikers. Sie besteht darin, charakteristische, abgewandelte und kontrastierende Phrasen dergestalt aneinanderzureihen, dass aus ihrem Zusammenspiel die individuelle Gestalt des Raga mit der Fortdauer der Musik immer deutlicher hervortritt. In dieser Entfaltung einer tonräumlichen Skulptur und, daraus hervorgehend, einer spezifischen musikalischen Atmosphäre manifestiert sich der Raga.
Am reinsten und eindringlichsten wird ein Raga im Alap entfaltet, dem nichtmetrisierten Anfangsteil einer Raga-Darbietung.
Der Musiker beginnt, die Töne des gewählten Raga schrittweise und systematisch zum Grundton in Beziehung zu setzen, indem er einzelne Töne und kurze Phrasen zu einer melodiebildenden Linie reiht. Die feste, mit Fortdauer der Musik zunehmend ins Unterbewusstsein übernommene Bezugsebene des Borduns bewirkt dabei, dass man die Töne ‚sehen’ kann: Gleich einer Leinwand, auf welcher Striche, Linien und Figuren sichtbar werden, entstehen vor der schimmernden Fläche des Borduns Gestalten aus Klang.
Mit der Kunst des Alap wurde in Indien eine einzigartige musikalische Darbietungsform von hoher Mitteilungskraft geschaffen. Die langsame, systematische und kontemplative Vortragsweise erlaubt auch dem Aussenstehenden, einen Raga nicht bloß zu hören, sondern ihn auch zu verfolgen, kennenzulernen und zu verstehen.
Schlaginstrumente in Nordindien sind die Tabla, das führende Perkussionsinstrument in der klassischen Musik, oder die Pakhawaj. Sie stehen gleichberechtigt neben dem Hauptinstrument und dürfen nicht als rhythmische Begleitung verstanden werden. Die Rhythmik der indischen Klassik ist der Melodieführung nicht untergeordnet, vielmehr gestaltet ein Perkussionist in dem System von rhythmischen Zirkeln, sog. Talas - in einem wechselseitigen Dialog - das Improvisationsspiel aktiv mit.
Die meisten Talas der neueren indischen Musik gebrauchen zwischen drei und sechzehn Zählzeiten. Während sie der Melodie und dem Trommelspiel einige Freiheit gestatten, so halten sie doch das zeitliche Geschehen in der Musik mit systematischer Strenge zusammen.
Die klassische indische Musik besteht in der Regel aus einem Hauptinstrument oder der Vokalstimme, ein bis zwei Perkussionisten, sowie als Untergrund zum Hauptinstrument Borduntöne, die von einer Tanpura hervorgebracht werden. Die Tanpura ist ein viersaitiges Instrument, das auf einen Grundton und Quinte, Quarte oder Septime gestimmt und gleichbleibend über die Länge des Konzerts gespielt wird. Dieses Instrument wird heute oft durch eine elektronische Tanpura ersetzt.
Das traditionelle Lehrsystem der klassischen indischen Musik
Die indische Musik wird seit alters her klingend überliefert. Der Lehrer singt oder spielt vor, und der Schüler ahmt nach, bis die einzelnen Phrasen korrekt wiedergegeben werden können. Diese auf Imitation des Lehrers beruhende, von Kindheit an geübte Lerntechnik ist ein Wesenszug der Musik. Sie bewirkt eine hervorragende Schulung des Gehörs und des musikalischen Gedächtnisses. Durch den Verzicht auf Notationen entsteht eine größere innere Nähe, eine unmittelbare Abrufbarkeit und Präsenz der Musik im Bewusstsein. Es wäre undenkbar, dass ein indischer Musiker nach schriftlich fixierten Noten spielt. Nur wenn die Erinnerung strömt und zu einer Quelle der Inspiration geworden ist, kann ein Raga zum Leben erweckt werden. Dem Lehrer-Schüler-Verhältnis kommt im traditionellen Lehrsystem eine hohe Bedeutung zu.

Wenn der große Atem Indiens im „Theater am Faden“ weht ...
Noch immer ist dies kleine versponnene Schatzkästlein in Stuttgart-Heslach ein Geheimtipp für Insider: eher bekannt bei Müttern mit märchen-hungrigen Kindern, die dort das Puppenspiel von Helga Brehme erleben. Viel zu wenige Menschen haben bisher wahrgenommen, dass hier auch noch auf einer ganz anderen Ebene Schichten der menschlichen Seele durch die Berührung mit dem großen Atem Indiens zum Klingen gebracht werden. Die klassische indische Musik, die hier auf Sitar, Tabla und anderen traditionsreichen Instrumenten von indischen Künstlern dargeboten wird, sowie der bezaubernde Tanz der hinreissenden Monalisa Ghosh aus Kalkutta und anderer Künstler sind Erlebnisse, zu denen sich kaum Vergleichbares andernorts in Stuttgart finden lässt. Jedes Jahr, im Frühjahr und im Herbst, werden solche fernöstlichen Kostbarkeiten für Auge, Ohr und Seele im winzigen „Theater am Faden“ geboten, in orientalisch-märchenhafter Atmosphäre, ohne Lautsprecher oder Lichttechnikeffekte! Man erlebt hier die hohe Kunst der indischen Tradition pur, fühlt sich wie entrückt in eine andere Welt, deren Ruhe und innere Weite den Zuschauer so durch-dringt, dass seine Seele zu tanzen beginnt. Das hörende Versenken in die obertonreichen Klänge der Ragas, die nach strengem Formprinzip immer neu improvisiert werden, lässt den Gast die europäische, durch Uhr und Termine zerstückte Zeit völlig vergessen. Es ist als ob man durch die Darbietungen der innerlich-heiteren, sanften indischen Künstler selbst in den großen Strom des Weltrhythmus hineingezogen würde, erfüllt und gestärkt kehrt man dann aus dem kleinen Zauberhäuschen in der Heslacher Altstadt zurück in den Alltag: dieser ist plötzlich zum All-Tag geworden!

Christiane Gollwitzer